Gut, dass es Twitter gibt. Als Nachrichtenquelle, als Second Screen beim Fernsehen oder für den schnellen Plausch.
Twitter könnte großartig sein – wären da nicht Elon Musks neue Chaos-Strategie und die Schattenseiten, die immer mehr überhandnehmen. Hass-Twitterer und rechte Pöbler, die Twitter achselzuckend gewähren lässt, Fake-Accounts, die konfuse und zugespamte Timeline in der offiziellen Twitter-App und auf twitter.com, oder das Ausmanövrieren erstklassiger Third-Partys-Apps – Twitter macht es selbst seinen größten Fans leicht, die Lust zu verlieren, und den Dienst irgendwann zu verlassen.
Weiter über Twitter ärgern? Nein!
Nur: Wohin, wenn bei Twitter irgendwann alles noch schlimmer wird? Snapchat kapiert keiner über 12. Die pinke Einhorn-Wunderwelt von Instagram ist mit ihrer aggressiv guten Laune auch kein Ersatz fürs zünftige gemeinsame Lästern bei Twitter. Und Alternativen wie Ello, Peach, Diaspora oder App.net sind nach kurzem Hype reihenweise gescheitert. Also bleiben? Und sich weiter über Twitter ärgern?
Muss nicht sein. Denn derzeit macht ein soziales Netzwerk von sich reden, das sich zumindest langfristig zur interessanten Twitter-Alternative mausern könnte. Das in Deutschland entstandene Mastodon macht fast alles richtig, was Twitter falsch macht. Hassposts lassen sich relativ leicht in den Griff bekommen. Es gibt kein Datensammeln, keine Werbung und keine manipulierten Timelines à la „Falls du es verpasst hast“. Und obwohl der Einstieg in Mastodon derzeit noch (zu) kompliziert ist, steigen die Userzahlen seit Musks Einstieg bei Twitter deutlich.
Was steckt hinter dem „besseren Twitter“?
1. Das ist Mastodon:
Erfinder des Microblogging-Dienstes ist der Thüringer Programmierer Eugen Rochko, der 2016 eine Alternative zu den kommerziellen sozialen Netzwerken schaffen wollte. Das Ergebnis ist Mastodon, hinter dem (im Gegensatz zu Twitter) kein Unternehmen, keine Konzernzentrale und keine kommerziellen Interessen stehen. Mastodon ist quelloffene Software, die von Mitgliedern weltweit und dezentral auf ihren Servern betrieben wird. Symbol des Dienstes ist der Urzeit-Elefant Mastodon, aus der Familie der Mammuts. Laut Erfinder Rochko hat ihn aber die Metalband Mastodon zu dem Namen inspiriert.
2. Das sind die Vorteile:
Sie liegen auf der Hand, wie Mastodon in seinem Präsentationsvideo zeigt. Der dezentrale Dienst kann nicht pleite gehen, er kann nicht verkauft werden, und er lässt sich nicht komplett von Regierungen blockieren. Weil sich die Betreiber nur durch Spenden finanzieren und es keine Pläne für eine Kommerzialisierung gibt, könnte es Mastodon schaffen, auch in Zukunft die Interessen seiner Nutzer in den Vordergrund zu stellen – und nicht die Wünsche von Anzeigenkunden.
3. Das ist so ähnlich wie bei Twitter:
Auch hier schreiben die Mitglieder kurze Nachrichten, die Links, Bilder oder Videos enthalten können. Allerdings bietet Mastodon dafür 500 Zeichen Platz. Die Tweets heißen hier „Toots“, Retweets nennen sich „Boosts“. Und es wird nicht gezwitschert, sondern „getrötet“. Auf dem Sendebutton zum Abschicken der Nachrichten steht tatsächlich „TRÖT!“ Auch das Prinzip des „Likens“ gibt es – allerdings mit Sternchen, wie früher bei Twitter, bevor die Herzen kamen. Nutzer können öffentliche und private Nachrichten schreiben. Und es gibt sogar noch einige Stufen dazwischen, also beispielsweise Toots, die nur bestimmte Nutzer sehen können. Die Privatsphäre-Optionen hat sich Mastodon eher von Facebook abgeschaut.
4. Das ist anders als bei Twitter:
Es gibt nicht ein Mastodon, sondern Tausende. Jeder Nutzer kann sein eigenes Mastodon auf einem Server installieren und öffentlich zugänglich machen. Diese Gruppen heißen „Instances“. Und es gibt sie zu den verschiedensten Themen, wie die Übersicht zeigt. Es gibt ein Mastodon für Kunst, eines für Berlin oder eines für Metal-Fans – und viele mehr. Dort treffen sich Nutzer mit gemeinsamen Interessen. Aber: Jeder Nutzer sieht zwei Timelines – die aus seiner aktuellen Gruppe, und zusätzlich die „föderale“ Timeline, die das komplette Mastodon abbildet, in der mittlerweile sekündlich neue Nachrichten aufschlagen, und die stark an Twitter erinnert. Nutzer aus verschiedenen „Instances“ können miteinander kommunizieren. Dazu kommen einige Feinheiten, die sich Twitter-Fans wünschen würden. So lassen sich Nachrichten mit Spoiler-Warnungen versehen. Bei Fehlern können sie editiert werden. Und die Vorschaubilder zeigen dank eines einfachen Tools für den Bildmittelpunkt immer den richtigen Ausschnitt.
5. So sorgt Mastodon für Sicherheit:
Jeder Betreiber einer „Instance“, also quasi einer Mastodon-Gruppe, stellt die Regeln auf, die für seine Nutzer gelten. Welche Bestimmungen gibt es für Sicherheit, Privatsphäre und für „explizite“ Inhalte? Wie wird mit Hassposts verfahren? Unerwünschte Beiträge und Nutzer lassen sich damit schnell in den Griff bekommen. Übereifrige Administratoren können damit aber auch zum Problem werden. Doch wer mit seiner Mastodon-Gruppe unzufrieden ist, kann sie verlassen – aber den großen Rest von Mastodon weiterhin nutzen.
6. So funktioniert der Einstieg:
Wem soll ich folgen? Wie bekomme ich selbst Follower? Wer schon beim Start in Twitter vor Rätseln steht, hat bei Mastodon noch größere Probleme. Schon die Nutzernamen wie @Gargron@mastodon.social (er gehört Gründer Eugen Rochko) klingen komplizierter. Und das Finden der richtigen und interessanten Instances bzw. Gruppen kann zur echten Herausforderung werden. Aber auf der deutschsprachigen Einstiegsseite ist alles mittlerweile recht gut erklärt. Und wer wissen will, ob seine Twitter-Kontakte auch schon bei Mastodon an Bord sind, kann das mit einem eigenen Tool prüfen. Erfahrene Twitter-Nutzer finden sich recht schnell zurecht. Doch wenn Mastodon tatsächlich zur echten Twitter-Alternative werden will, muss es noch übersichtlicher und einfacher werden.
7. So lässt sich Mastodon nutzen:
Im Browser sieht Mastodon mit seiner Spaltendarstellung ganz ähnlich aus wie der Twitter-Client Tweetdeck. Und auch die Bedienung ist vergleichbar. Für den Desktop gibt es alternativ Gratis-Programme wie Whalebird (Mac) oder Mammoth (Windows). Die beliebtesten iOS-Apps zur Nutzung von Mastodon heißen Amaroq, Tootdon und Toole. Bei Android sind es Mastalab, Tusky und ebenfalls Tootdon. Alle Apps sind gratis.
8. So lässt sich eine eigene Mastodon-Gruppe gründen:
Wer ein spezielles Interesse hat, kann seine eigene Mastodon-„Instance“ installieren, im Netz veröffentlichen und nach Nutzern suchen. Die Installation, für die ein Ubuntu-Server notwendig ist, der sich für wenige Euro im Monat mieten lässt, ist kein Hexenwerk, erfordert aber doch einiges an Computerkenntnissen. Eine Anleitung gibt es hier.
Doch die beste Taktik dürfte sein: Mastodon erst einmal als Nutzer kennenlernen, dann irgendwann eine eigene Gruppe starten – und die Nachricht laut in die Welt hinaustrompeten. Tröt!